Nell Zink erzählt in „Sister Europe“ von einer illustren Schar, die sich im Umfeld einer Literaturpreis-Verleihung zusammenfindet und eine ganz besondere Nacht erlebt. Angesiedelt ist der Roman in einem Berlin, das es bis heute gibt, das aber so in keinem Reiseführer verzeichnet ist.
Man schreibt den 21. Februar des Jahres 2023. Der Schauplatz ist Berlin. Dort findet sich eine illustre Gesellschaft im Dunstkreis einer Feier für einen Abend und eine Nacht zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen. Doch zunächst lernt man die Figuren des Romans einzeln kennen.
Nicole zum Beispiel, die mal Kilian hieß, sie ist 15 und möchte eine Frau sein. Allein – ein billiges Glitzerkleid und High Heels reichen nicht aus:
Was war schon dabei, sich für ein paar Minuten auf der Kurfürstenstraße als Stricherin auszugeben? So hatte sie es sich jedenfalls gedacht – dass es einfach sein würde. Als sie sich die Situation ausgemalt hatte, sah sie keine Probleme. Eine kurze Tour über den Laufsteg und für jeden Typen, der ihr hinterherpfiff, gäbe es einen Punkt.
Eine illustre Gesellschaft im Berlin des Jahre 2023
Nicoles Probe aufs Exempel misslingt gründlich. Derweil bereitet sich ihr Vater Demian, freier Kunstkritiker, zuhause am Schlachtensee auf die Feier vor, bei der der arabische Autor Masud al-Huzeil einen Literaturpreis erhalten soll. Demian verehrt Masuds Dichtung seit er ihn vor Jahrzehnten an der dänischen Küste getroffen hat.
Demian war damals jung und leicht zu beeindrucken gewesen, traurig und schüchtern – achtzehn Jahre alt und ein begeisterter Leser von Lyrik, auch von arabischen Versen in Übersetzung. Tagelang hörte er Masuds blumigem, stockendem Englisch zu, außerstande, seine ständigen Einladungen abzulehnen.

Zur Preisverleihung bringt Demian Livia mit, eine Freundin und Erbin mitsamt Königspudel Mephisto. Ausgelobt hat den Literaturpreis eine gealterte muslimische Prinzessin, die in der französischen Schweiz lebt und in den Vereinigten Emiraten Anerkennung als Dichterin genießt.
Vor allem aber ist sie reich und kann nicht selbst bei der Soiree dabei sein. Also schickt sie ihren homosexuellen Enkel Radi als Stellvertreter nach Berlin.
Dann ist da noch der halbamerikanische Kleinverleger Toto, der in den Neunzigern mit schlechten Musikerbiografien gut Geld verdient und in Berlin seine Wahlheimat gefunden hat. Er bringt seine Internetbekanntschaft Avianca mit zu der Soiree.
Nell Zink lässt ihre Figuren mal aufeinanderprallen, mal umeinander herumtanzen. Und sie lässt ihnen den Polizisten Klaus hinterherschleichen, der in seiner zwielichtigen Art als Sittenwächter walten will und zugleich wirkt wie die lebende Verkörperung einer gegenwärtigen konservativen Empörungskultur.
Platz 1 (48 Punkte) Nell Zink: Das Hohe Lied
Drei junge Menschen im New York der frühen 1990er, die eine Punkband gründen. Zink fächert ein soziales Panorama auf: Musik, Drogen, Krieg, Aktivismus und 9/11. Mit Ironie erzählt, aber mit scharfem Blick auf die Verhältnisse.
Liebevolle Porträts schräger Vögel
Zink porträtiert diese schrägen Vögel liebevoll, feinfühlig, mit einer Prise zärtlicher Ironie. Aus dem pointenreichen Dialogen und unzähligen kleinen Volten erwächst eine beeindruckende Lebendigkeit und herrliche Komik, wie in diesem Moment des Abendessens, das – schließlich ist die Preisstifterin muslimisch – ohne Alkohol auskommen muss, so heißt es im Roman:
„Die neun Tische im überheizten Glaspavillon, jeweils für zehn Personen gedeckt, litten an einem auffälligen Mangel an Weingläsern. Es gab keine. Toto setzte sich neben den Mann vom Kulturministerium, der sich von der Bar in der Lobby einen Highball geholt hatte, und die anderen gesellten sich dazu.
Der Ministerialrat war hungrig und schlecht gelaunt, er fing gleich an, sich den Inhalt des Brotkorbs in den Mund zu schieben, eine Scheibe nach der anderen. Neben ihm saß ein bärtiger, lächelnder Mann mit starkem slawischem Akzent, in einem blassblauen Leinenblazer über einem wollenen Pullunder. Der Ministerialrat schwärmte vom ganz unbürokratischen Vergnügen, mit Goethe-Instituten in Diktaturen zu operieren.
Eine schaumige Suppe wurde serviert – ihr blumiger Geschmack erinnerte Demian an Quittenmarmelade –, gefolgt von einer winzigen, salzigen Torte aus in Aspik ertränkter Wachtel, die Toto mit einem Hockeypuck verglich. Der dritte Gang war ein Lammkarree. Es war rot und zäh und reagierte auf Messerattacken, indem es tiefdunkles Blut absonderte. Der Slawe schlug vor, es in die Küche zurückzuschicken und wieder am Lamm anzubringen."
Alltagsabsurditäten prallen auf die Sehnsucht der Figuren nach Kontakt, Übereinstimmung und Zugehörigkeit. Denn nicht wenige von ihnen sehnen sich, so kitschig es klingen mag, danach, verstanden zu werden, im Wissen und mit der Erfahrung, dass das selten klappt.
Ein bisschen Woody Allen
„Sister Europe“ ist auch ein Liebesroman, der die Zweifel und Schüchternheiten seines Personals extrem gut kennt und der Fragen von Identität, Begehren und Zuneigung ständig indirekt verhandelt, im Wissen, dass Liebe oft ein großes Aneinandervorbei bleibt. Ein bisschen klingt der Roman nach frühen Filmen von Woody Allen, ein bisschen nach denen des französischen Filmemachers Eric Rohmer mit ihren schnellen Dialogen.
Die Liebesgeschichte in „Sister Europe“ verwebt sich aber mit Beobachtungen aus dem subkulturellen Berlin der Neunzigerjahre und den kulturellen und Halbwelt-Milieus der Gegenwart. Nicht selten fragt man sich, woher die Autorin eigentlich so derart frappierend gut kennt, was sie in dem unverwechselbaren Ton erzählt, der schon ihre vorangegangenen Romane prägte und trägt.
Voller Ernsthaftigkeit werden seelische und gesellschaftliche Ambivalenzen ausgelotet, doch auch dabei kommt der Humor nie zu kurz, wie diese Schilderung zeigt, in der Demian über seine Zweifel an Masuds Dichtung sinniert:
Als er die Bücher las, stieß Demian zu seinem Entsetzen auf einen krassen und hartnäckigen Rassismus gegen Schwarze. Ließ sich das entschuldigen? Er entschuldigte es, auf Grundlage der Tatsache, dass es einem antischwarzen Rassisten schwerfallen würde, in Norwegen allzu viel Schaden anzurichten, wo antimuslimischer Rassismus eine tödliche Bedrohung war (zugegeben, ein großer Teil davon war intersektional und richtete sich gegen Somalis). War es herablassend, seine eigenen ethischen Maßstäbe zu senken, weil der Mann ein Genie war, oder war es eurozentrisch, sie nicht zu senken, und was war schlimmer?
Platz 5 (46 Punkte) Nell Zink: Avalon
Nell Zink ist unterhaltsam, rasant, komisch und stets hochreflektiert. In „Avalon“ erzählt sie von einer großen Liebe und von einer Frau, die erst entdecken muss, dass sie mehr vom Leben erwarten darf als das, was sie angeboten bekommt.
Träume und Wünsche unter den Vorzeichen von Wokeness und großen Umbrüchen
Ja, was ist schlimmer? fragt man sich im Blick auf die Zwiespalte der Figuren in einem Roman, der die Borniertheiten und Kränkungen, die Träume und Wünsche seiner Figuren unter den Vorzeichen von Wokeness und den großen Umbrüchen der Gegenwart so interessiert betrachtet wie ein Vogelbeobachter seltsames Federvieh durch ein Fernglas: voller Zuneigung und Faszination und Neugierde.
Nicole mit ihrem Wunsch, ihr biologisches Geschlecht abzulegen verkörpert das vielleicht am deutlichsten, wie sehr die Zersplitterung der Gesellschaft das Empfinden der Verlorenheit befördert.
Nichts bleibt wie es ist, nichts kommt wie es kommen soll, aber alles wirkt plausibel in „Sister Europe“, weil Nell Zink einfach eine großartige Erzählerin ist. Rückblickend versteht man, wie kunstvoll schon der erste Satz den weiten Horizont des Romans aufspannt:
Es regnete vierzig Tage und vierzig Nächte», erzählte Demian seiner jüngeren Tochter Maxima («Maxi»), die mit leichtem Fieber früher als sonst ins Bett gegangen war.
Der Satz erinnert an die biblische Erzählung von Noah und der Arche: die Sintflut dauerte vierzig Tage. Die biblische Geschichte ist eine von Untergang und Überleben, – ganz wie „Sister Europe“.
Beim Lesen stellt sich ein leichtes Fiebergefühl ein, das zugleich high macht, hypnotisiert und darin wiederum auch dem Song der Band „The Psychedelic Furs“ ähnelt, dem Nell Zinks melancholisch-kluger Roman seinen Titel verdankt.
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Die Biographie der Schriftstellerin Nell Zink ist so abenteuerlich wie die Literatur, die sie schreibt. In Philadelphia gründete sie zum Beispiel ein kleines Magazin, in dem Musiker zu Wort kamen, die über ihre Haus- oder Lieblingstiere berichten. Die Fauna ist ohnehin sehr wichtig in Nell Zinks Leben, das sich mal in Tel Aviv, dann in Tübingen abspielt und jetzt in der brandenburgischen Kleinstadt Bad Belzig verortet ist. Als Autorin bekannt geworden ist sie hierzulande mit ihrem Debütroman „Der Mauerläufer“ und allein wie das Manuskript entstand, ist schon wieder Stoff für einen neuen Roman.