New York im März 2024, wenige Monate vor der Wiederwahl von Donald Trump. Als Gastdozentin kehrt die Wiener Lyrikerin Nina zurück, doch die Stadt hat ihr Gesicht verändert.
New York als Neustart – verführerischer Gedanke. Nina Wagner, Mitte fünfzig, Lyrikerin aus Wien, hat die Gelegenheit einer Gastdozentur ergriffen, um sich für ein Semester von allem, wie sie es nennt, „abzutrennen“.
Von den traumatischen Erinnerungen an die lieblosen Eltern und die vor langer Zeit gescheiterte Ehe. Von der Tatsache, dass die erwachsene Tochter zum Vater übergelaufen ist. Von der Sehnsucht nach dem Mann, der sich nach der ersten Liebesnacht einfach nicht mehr gemeldet hat.
Von irgendwelchen Shitstorms wegen „Verteidigung der freien Rede“ über die Kriege in der Ukraine und Gaza, die ihr von, so wörtlich, „gesichtslose[n] Verleumder[n]“ den Vorwurf der „Querdenkerei“ eingebracht haben.

Die Menschlichkeit liegt gleich zu Beginn am Boden
Es ist der März 2024. Das New York, das Nina von früheren Besuchen zu kennen glaubt, gibt es so nicht mehr, das wird schon zu Beginn des neuen Romans von Marlene Streeruwitz klar. Die Warteschlange vor dem Immigration Counter am Flughafen schiebt sich an einer leblos daliegenden Frau vorbei, und keiner traut sich zu helfen, auch Nina nicht.
Sie umklammerte ihren Pass. Sie konnte nichts tun. Niemand konnte etwas tun. Niemand durfte etwas tun. Die Bürokratie musste ihren Lauf nehmen. Die Frau musste nachweisen, wirklich krank zu sein. Und jeder, der sich der Frau zubeugen wollte. Es würde eine Komplizenschaft vermutet werden und die Sache noch komplizierter machen. Ein Komplott würde vermutet werden. Alle würden zum Verhör abgeführt werden.
Die Angst vor Migranten. Die Pandemiefolgen. Die Opioidkrise. Schließlich Trump ante portas. Das Buch trägt den Titel „Auflösungen. New York.“ – und genau darum geht es. Irgendwie ist alles in Auflösung begriffen, in Ninas Leben und im Leben der Stadt.
Die ersten dreißig Seiten des Romans sind nur ein Vorgeschmack: Auf dem Weg vom Flughafen setzt ihr Uber-Fahrer sie an einer falschen Adresse ab, vor einem Abbruchhaus. Am Abend ihrer Ankunft gerät sie in den Vortrag einer jungen Wissenschaftlerin, die in Tradwife-Manier nur den männlichen Vertretern der Literaturgeschichte huldigt.
Kurz drauf wird sie Zeugin, wie ein Sicherheitsmann einen wehrlosen propalästinensischen Studenten tasert. Besser wird es nicht.
Ninas desolatem Gefühlszustand, ihrem Hadern mit dem Älterwerden, mit ihren weiblichen Selbstzweifeln und ihrer ökonomisch prekären Existenz entsprechen Alkoholismus, Aids und Altersarmut im Kreis ihrer homosexuellen Künstlerfreunde und Theaterfreundinnen: der Verfall einer ehedem so lebendigen Kulturboheme, die sich ein unfassbar teuer gewordenes New York City einfach nicht mehr leisten kann.
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Wo Henry James seinen ersten Roman ansiedelte
Der Roman besteht aus zwei Teilen, genannt Volume 1 und Volume 2. Sie beziehen ihre Titel von Gedichten des früh verstorbenen New Yorker Lyrikers Frank O‘Hara.
Auch ansonsten wird viel Intertextualität geboten, allen voran Bezüge auf Henry James‘ frühen Geld-oder-Liebe-Roman „Washington Square“ von 1881 – was wenig verwundert, ist die Heldin doch untergebracht in einem Hochhausapartment im Washington Square Village, just in dieser vor 150 Jahren so gutbürgerlichen Gegend.
Die O’Hara-Reminiszenzen der Titel, „Standing Still and Walking in New York“ und „Meditations in an Emergency“, setzen den Ton. Im ersten Teil ist Nina tatsächlich immerzu unterwegs, mit der U-Bahn, vor allem aber zu Fuß, in Buchhandlungen, Klamottenläden, Supermärkten, Bars und den Wohnungen der Freunde, mal flanierend, mal joggend bis zur nächsten Pause am Hudson mit Blick auf Staten Island.
Streeruwitz ruft detailliert die Szenerien im vorfrühlingshaften Manhattan auf, aber „Auflösungen. New York“ wird nicht zu einer weiteren Hymne auf die vielbesungene Stadt. Der innere Aufruhr der Protagonistin spiegelt sich in haarsträubend kaputten Straßen voller Menschen ohne Zuhause, in überall weggeworfenen Fast-Food-Containern und aufgeplatzten Müllsäcken.
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Nina deutet den Niedergang als Folge einer Weltordnung, in der Männer, ob Präsidentschaftskandidat mit einer Bestechungsklage am Hals oder trunksüchtiger Ex-Mann, immer jemand anderen wissen, der die Schuld hat am eigenen Versagen und Fehlverhalten:
Alltägliche Verschwörungstheorie war das gewesen. Mittlerweile war das die politische Kraft des Internets und nicht anders als jeder andere feudale Entwurf. Immer ein verstörtes männliches Ego im Mittelpunkt.
Unzweifelhaft liegt eine gewisse Ironie darin, dass im Mittelpunkt des Romans ein verstörtes weibliches Ego steht, das ebenfalls eine ganze Reihe von Verantwortlichen für sein eigenes Unglück zu benennen weiß. Zweifelhaft ist jedoch, ob die Autorin, die in ihren Texten seit eh und je durchaus Sinn für Komik zeigt, ausgerechnet diese Ironie beabsichtigt hat.
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Plötzlich selbst ohne Geld und ohne Papiere
Jedenfalls lösen sich die vielerlei dunklen Vorausdeutungen aus der ersten Hälfte des Buchs im zweiten Teil aufs Heftigste ein. Nun konzentriert sich die Handlung auf einen einzigen, höllisch heißen Tag.
Nina findet sich mit blutender Platzwunde am Hinterkopf, beraubt und ohne Papiere, in den Fängen eines feindseligen Medizinsystems wieder, wird des Drogenmissbrauchs verdächtigt, entkommt abenteuerlich, sieht sich am Internetpranger und fürchtet um ihren Aufenthaltsstatus.
Die Beklemmung wächst – bis sich am Ende alles in Wohlgefallen auflöst: in einer großen deutsch-amerikanischen Szene mit Ninas hochbetagtem Nachbarinnenpaar.
Sie nahm das Glas. Sie konnte nicht antworten. War überwältigt. Alles anders, als gedacht. […] ,Now Nina. How are your affairs coming along?’ […] Norma schaute sie freundlich verlegen an. ,We are helplessly romantic. You know. We cannot think of other motives than love affairs.‘ And in the end. We are right. Usually. You know.‘ […] Konnte das sein? War sie in die Mitte einer Fernsehserie geraten?
Das ist genau die Frage, die sich der Leserin aufdrängt. Ist die Wendung hin zu Friede, Freude, Eierkuchen, schwarze Schlusspointe eingeschlossen, nicht arg willkürlich? Soll diese freundliche kleine Insel gegenseitiger Fürsorge tatsächlich die Schrecknisse im Kosmos des Öffentlichen aufwiegen?
Marlene Streeruwitz‘ Roman, der so vieles behauptet, gibt darauf keine überzeugende Antwort.
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